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23.12.2025rss_feed

Interview: Gesundheit als Grundlage für den Kupierverzicht – Was tun, wenn es trotzdem mal kippt

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In einer mehrteiligen Web-Seminarreihe für ISN-Mitglieder im November wurden einige mögliche Ursachen für Schwanzbeißen vorgestellt, um die Zusammenhänge besser verstehen und praktische Ansatzpunkte für den Einstieg in den Kupierverzicht finden zu können. Im dritten Teil hat Mirjam Lechner, Agraringenieurin mit dem Schwerpunkt Gesundheit und Tiersignale von Nutztieren, die Tiergesundheit als Grundlage für den Kupierverzicht beleuchtet. Wir haben sie im Nachgang gebeten, einige zentrale Fragen dazu zu beantworten.

 

Was sind aus Ihrer Sicht die entscheidenden Erfolgsfaktoren, um auf das Kupieren der Schwänze verzichten zu können?

Wenn ein Betrieb sich dem Kupierverzicht nähern möchte, braucht ein möglichst hohes Schweinegesundheitsniveau und best practice auf allen Management- und Haltungsebenen. Und natürlich auch Vermarktungspartner, falls es hier einen Übergang zwischen Aufzucht und Mast gibt. Die Ferkel sollten 4 Wochen alt sein und mit einem hohen Gesundheitsniveau von der Sau in die Aufzucht kommen, die nach Möglichkeit bereits frei von Ohrspitzennekrosen, Auseinanderwachsen oder Verhaltensstörungen sein sollte: In dieser Phase sind die Tiere besonders vulnerabel.

Für den Kupierverzicht braucht es außerdem ein feines Auge für die Tiersignale und auch unverzügliche Reaktionen bei Auffälligkeiten. Dieses Wachsen an der Herausforderung Ringelschwanz fordert seine Zeit – die man sich wortwörtlich nehmen muss.

 

Welche typischen Fehler oder Herausforderungen sehen Sie derzeit noch in der Praxis, wenn es um den Kupierverzicht geht?

Der Kupierverzicht ist ein Staffelstab zwischen den einzelnen Alters- und Stallabschnitten: Stressmomente bringen ihn schnell zum Fallen – umso gleitender sollten die Übergänge sein. Man sollte den Tieren Brücken bauen wie z.B. langsame Futterübergänge. Aber besonders an einem Tränkesystemwechsel oder einer zu geringen Wasseraufnahme scheitern unbewusst einige Betriebe und landen oft nur deswegen in Nekrosen mit sekundärem Schwanzbeißen.

 

Welche Stellschrauben können Landwirte in Bezug Tiergesundheit besonders wirkungsvoll nutzen, um Schwanzbeißen vorzubeugen?

In Ruhe ohne Konkurrenz fressen zu können, also ein ausreichendes Angebot an Fressplätzen, wird aus Langschwanzländern auf den ersten Platz gelistet. Offenes, aber hygienisiertes Wasser als erstlimitierender Faktor für die Tiergesundheit wird noch oft unterschätzt. Verstopfung, Coli bzw. Endotoxine mit Fieberkurven und Nekrosen an Ohren und Schwänzen sind hiermit jedoch fest verknüpft.

Beschäftigungsmaterial in Form von Raufutter bzw. ein weiteres Beschäftigungsfutterangebot ist ein großer Puffer und daher ebenso notwendig.

 

Welche Gesundheitsparameter sollten regelmäßig überprüft werden?

Fieber und Darmgesundheit - das umfasst die Urin- und Kotbeschaffenheit - sind neben Verhaltensänderungen im Fokus: Infektiöse Entzündungsreaktionen wie z.B. Influenza und PIA sowie nicht-infektiöse Entzündungsreaktionen wie Hitzestress, Wassermangel und Myktoxine belasten Schweine auch in guten Haltungsbedingungen und können damit zu Nekrosen und Verhaltensstörungen führen. Das Management von Mykotoxinen ist ein Muss - sie ruinieren sonst alles.

 

Bei welchen Signalen oder Symptomen sollten Landwirte besonders wachsam sein und wie sollten sie am besten reagieren?

Fester Kot ist in allen Altersstufen beim Schwein ein Hinweis auf Wassermangel mit einhergehender Colivermehrung und Endotoxinfreisetzung, die zu Fieber führen. Beim Kurzschwanz noch übersehen, führt sie beim Langschwanz schnell zu Nekrosen. Unruhige und suchende Tiere geben außerdem Hinweise auf Mangelsituationen - besonders an Aminosäuren!


Wie kann Thermografie sinnvoll in den Stallalltag integriert werden?

Inzwischen gibt es für etwa 250 € Ansteckgeräte für das Handy, die bei korrekter Einstellung sehr gute Berechnungen der Hauttemperatur (Fieber) beim Schwein bieten oder bei der Aufdeckung von Klimadefiziten helfen. Eine übersehene Fieberwelle ist ein Risikomoment.

 

Welche Maßnahmen würden Sie bei einer Havarie empfehlen?

Innerhalb der Arbeitsgruppe Kupierverzicht des Netzwerks Fokus Tierwohl haben wir mehrere Module (Veröffentlichung in Q1/2026) mit Hilfestellungen entwickelt. Wichtig ist, das betroffene Gruppen tierschutzgerecht - also unverzüglich - und rechtlich korrekt (Dokumentation) behandelt werden. Dies umfasst eine zum Ausheilen geeignete Unterbringung und veterinärmedizinische Behandlung gegen Schmerzen und eine mögliche Infektionsgefahr, sowie die Ablenkung der Tiere, damit das Geschehen nicht weiter eskaliert. Die Ursachensuche folgt dann erst im zweiten Schritt.

 

Gibt es neue Forschungsergebnisse oder Entwicklungen, die Sie für die Zukunft besonders wichtig halten?

Ich sehe es als positiv an, dass die Praktikerfahrungen und die Forschung näher zusammenrücken und hier die Genetik, Darmgesundheit und die Zusammenhänge von Erkrankung und Verhaltensstörung in den Fokus kommen. Die meisten Maßnahmen, welche gegen Schwanzbeißen helfen, helfen auch schon gegen vorhergehende Nekrosen an Ohren oder Schwänzen.

 

Wenn Sie den Landwirten eine zentrale Empfehlung für den Kupierverzicht mitgeben könnten – welche wäre das?

Die Tiergesundheit beginnt im Darm: Etwa 70 % der Immunität sind hier verortet. Ich rate den Betrieben hier dringend zu darmschonenden Futterrationen mit hohen Anteilen rohfaserreichen Komponenten – aus der Erfahrung konventioneller Ringelschwanzbetriebe schon ab der Sauenfütterung (Stichwort in Utero Programmierung). Tiergesundheit ist oft die Balance zwischen zu wenig und zu viel: Auch in vorhandenen Ställen kann man die Ressourcenverfügbarkeit verbessern und den Turm der Risiken Stück für Stück abbauen und damit auch mehr Stabilität in die Produktion und Effizienz durch eine gute Tiergesundheit bringen.


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